Marx trauert, Agenda 2010 droht

Wandbild-Triptychon in Wilmersdorf reflektiert die Zustände in unserer Gesellschaft

 

Die weinenden, schreienden Menschen blicken dem S-Bahn-Fahrenden Hilfe suchend in die Augen. Direkt an der S-Bahn-Brücke, zwischen den Stationen Zoologischer Garten und Savignyplatz, will eine Fassadenmalerei Aufschluss darüber geben, wie Politik tatsächlich zu Stande kommt. Die Giebel der Häuser Uhlandstraße 185 bis 186 zeigen ein riesiges Wandbild-Triptychon, das die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Politik und sozialer Lage der Bürger drastisch verdeutlichen soll.

 

An der linken Hauswand tätscheln gesichtslose Wirtschaftsbosse ihre dicken Dienstwagen. Über der Kulisse Berlins blicken Bismarck und der Alte Fritz auf das Treiben herab. Die Fäden, an denen das Kapital zieht, gehen über auf den mittleren Teil des Triptychons: An ihnen hängen wie Marionetten zahlreiche bekannte Politiker aller Parteien. Die Lakaien der Wirtschaft fabrizieren »Reformen« und Gesetze die im dritten Bild als Papierschwall in Form von Agenda 2010 und Hartz IV auf die Massen niederregnen. Hoch oben in den Wolken thronen, parallel und zu Bismarck und Fritz, Marx und Engels und schauen enttäuscht auf die Erde nieder.

 

Schöpfer dieses Triptychons ist der Fassadenkünstler Christian Wahle. Zusammen mit seinen Graffiti-Kollegen Gino Fuchs und Jana Lamprecht hat er im Juni diesen Jahres knapp drei Wochen lang unermüdlich daran gearbeitet. Die teure Gegend nahe des Zoologischen Gartens ist dabei nicht zufällig gewählt. Im Umkreis der Uhlandstraße am Kurfürstendamm befinden sich noble Hotels und Boutiquen, deren Kunden die Härten der Agenda 2010 wohl eher nicht zu spüren bekommen werden.

 

Der Auftraggeber der Wandmalereien will nicht genannt werden, er stellte die Wandflächen zur Verfügung. Die Idee stamme zwar von ihm, sagt Wahle, die Materialkosten habe er aber nicht tragen müssen. Dafür habe er selbst an der Arbeit nichts verdient, die Entwürfe seien aus purem Idealismus realisiert worden. Aus Kostengründen sind die Künstler ohne Gerüst zu Werke gegangen, deshalb ist der untere Teil der Fassaden lebhafter gestaltet als der obere. Bisher sind Christian Wahle keine negativen Reaktionen auf die provokante Aussage des Triptychons bekannt geworden. Die Mieter der Häuser fanden die Aktion jedenfalls gut, erzählt er.

 

Wahle ist sich sicher, dass das Echo auf seine Bilder mit der Zeit immer größer werden wird: »Die Leute sind sich nicht im Klaren darüber, was auf sie zukommt. Heute geht es uns noch gut. Hartz IV ist erst der Anfang, es wird noch viel schlimmer kommen«, meint er. Mit Hilfe der Karikatur will er die Realität überspitzt darstellen und dem Missmut der Leute über Hartz IV und all die anderen politischen Fehlgriffe Ausdruck verleihen.

 

Die Aufsplittung der Gesellschaft in Klassen werde sich in Zukunft noch verschärfen, glaubt Wahle. Politik werde zu 99 Prozent von der Wirtschaft gemacht. Die altbekannte Tatsache, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, wird auch auf den Fassadenbildern gezeigt: Während die Unternehmenslenker Zigarren rauchen und mit Geld um sich werfen, wühlen die Bedürftigen im Müll, können sich keinen Zahnersatz leisten und ertränken ihren Kummer in Schnaps.

 

Es ist nur schade, dass sich das Kunstwerk so schwer in Ruhe betrachten lässt.

 

Mit der S-Bahn rast man zu schnell daran vorbei, als dass man Einzelheiten erkennen könnte. Steht man direkt davor, bleibt einem der Zusammenhang des großen Ganzen verborgen. Deshalb wird im September ein Glaskasten am Haus angebracht. Dahinter sind dann die drei Wandbilder im Kleinformat zu sehen. Ergänzt werden sollen sie durch Erläuterungen zum Anliegen des Kunstwerks.

 

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